Münchhausen-Stellvertretersyndrom/ Munchausen by Proxy Syndrome

Münchhausen-Stellvertretersyndrom/ Munchausen by Proxy Syndrome

            1951 befasste sich Richard Asher erstmals mit dem Münchhausen-Syndrom, welches das Erfinden oder Erzeugen von Symptomen sowie daraus folgende unzählige ärztliche Untersuchungen und Eingriffe beschreibt (Asher, 1951). Es wird im ICD-10 und im DSM IV unter den artifiziellen Störungen bzw. unter den nicht-näher bezeichneten vorgetäuschten Störungen kategorisiert. Das Münchhausen-Stellvertetersyndrom oder auch Munchausen by Proxy Syndrome (MbPS) wird als eine Sonderform artifizieller Störungen verstanden, die durch Interaktionen zwischen Mutter, Kind und Arzt gekennzeichnet ist (Donald & Jureidini, 1996). Anstelle der körpereigenen Selbstmanipulation beim Münchhausen-Stellvertretersyndrom erfolgt eine Fremdmanipulation am Kind durch die Bezugsperson (Krupinski, 2013).

            Es definiert sich nach Rosenberg (1987) durch die folgenden vier Symptome: Zum einen wird die Krankheit des Kindes von einem Elternteil oder einem Erziehungsberechtigten fälschlich angegeben, produziert oder manipuliert. Folglich wird das Kind andauernd medizinisch behandelt und untersucht. Zum anderen wird das Wissen über die wahren Ursachen zum Krankheitsbild des Kindes verleugnet. Zuletzt ist das Syndrom dadurch gekennzeichnet, dass akute Symptome des Kindes abklingen, wenn das Kind von der Bezugsperson getrennt wird. Vorgetäuschte Symptomatiken sind beispielsweise epileptische Anfälle oder die Verfälschung von Krankenunterlagen und Körperausscheidungen des Kindes (Krupinski). Bezüglich des aktiven Erzeugens von Symptomen treten häufig Verletzungen mit Fingernägeln oder spitzen Gegenständen an der Haut des Kindes auf oder Medikamente werden unbegründet verabreicht. Zu den häufigsten evozierten Symptomen gehören unter anderem Blutungen, Anfälle, Apathie-/Komazustände, Atemstillstände bzw. -störungen und Durchfälle. Bezüglich des Geschlechts der Opfer gibt es keine Unterschiede, das Alter betreffend fallen durchschnittlich Kinder bis zum vierzigsten Monat dem Missbrauch zum Opfer (Rosenberg).

            Hinsichtlich der Schwierigkeiten einer einheitlichen Begriffsbestimmung wird zwischen einer das Kind betreffenden Missbrauchsdiagnose (pediatric condition falsification) und einer die/den Täter(in) betreffende artifizielle Störung by Proxy (factitious disorder by proxy) differenziert (Stirling, 2007). Der Begriff des Müchhausen-Stellvertretersyndroms beinhaltet somit beide Elemente und soll für die Gesamtheit dieser Missbrauchsform stehen (Schreier, 2004). Die im DSM IV beschriebenen Kriterien, die der/die Täter(in) erfüllen muss, sind zum einen das intentionale Produzieren oder Vortäuschen von physischen oder psychischen Symptomen bei einer Person, für die der/die Betreffende Sorge trägt (American Psychiatric Assosiation, 1994). Zudem ist die Motivation des Täters/der Täterin die Krankenrolle stellvertretend einzunehmen. Auch können externe Vorteile sowie andere psychische Störungen das Verhalten nicht erklären. Es herrscht eine eindeutige Geschlechterdispariät, da überwiegend Mütter als Täterinnen empirisch festgestellt wurden (Meadow, 1998). Häufig auftretende Charakteristika der Mutter sind zum Beispiel eine engagierte, vertrauenswürdige, fürsorgliche und liebevoll um das Kind bemühte Außenwirkung (Krupinski). Bei Krankenhausaufenthalten ist die Mutter ständig anwesend und enge, vertrauliche Beziehungen zu dem Klinikpersonal werden schnell aufgebaut. Die Angaben zur Vorgeschichte und vorherigen Behandlungen des Kindes sind falsch oder unvollständig, es bestehen medizinische Vorkenntnisse und invasive Untersuchungsmethoden werden von ihr vorgeschlagen. Wenn der Zustand des Kindes sich verschlechtert, bleibt die Mutter auffallend gelassen und schuldigt das Personal an. Die Partnerbeziehung zwischen Mutter und Vater bzw. Partner erscheint distanziert, die Beziehung zum Kind nahezu symbiotisch. Häufig besteht eine medizinische Ausbildung bei der Mutter (Meadow, 1989). Zudem zeigen sich oftmals depressive Syndrome, histrionische oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen (Bools, Neale & Meadow, 1994). Auch zeigen sich empirisch gehäuft Somatisierungsstörungen, Artifizielle Störungen, selbstverletzendes Verhalten und Substanzmissbrauch bei den Täter(inne)n.

            Aufgrund der beschriebenen Kriterien und Charakteristika ist es möglich Bezug zu ähnlichen Störungsbildern zu nehmen. Ähnlichkeiten zur emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung fallen beispielsweise bezüglich des Beziehungsverhaltens auf. Personen mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung haben laut DSM IV Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung, die durch Idealisierung und Abwertung der jeweiligen Kontakte gekennzeichnet ist, sodass die Beziehungen instabil und durch einen Wechsel von Nähe und Distanz geprägt sind (American Psychiatric Assosiation, 1994). Im Ansatz lässt sich dies mit dem Verhalten der Mütter vergleichen, die sehr schnell eine auffallend enge Beziehung zu dem Klinikpersonal aufbauen können. Die Fähigkeit eine Distanz innerhalb dieser Beziehungen zu wahren scheint nicht gegeben und die behandelnden Ärzte werden abwechselnd idealisiert und abgewertet (Noeker, 2004). Ein weiteres mögliches Korrelat zur emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung kann nach Noeker das Gefühl der inneren Leere sein, welches über die Rolle als Mutter eines kranken Kindes kompensiert werden kann. Auch werden Parallelen zu den dissoziativen Zuständen bei Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörung gezogen. Dissoziationen sind laut DSM IV die Trennung von normalerweise assoziierten Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten, wodurch die integrative Funktion des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und der Identität beeinträchtigt werden kann (American Psychiatric Assosiation). Personen mit der Borderline Persönlichkeitsstörung leiden unter anderem unter den dissoziativen Klassifikationen Depersonalisation (Verlust oder Veränderung des Persönlichkeitsgefühls), Derealisation (zeitweise oder auch andauernde entfremdete Wahrnehmung der Umwelt) und Abweichungen in der Selbstwahrnehmung (Korzekwa, Dell & Pain, 1996). Krupinski schildert bezüglich der Mütter, dass diese den Körper des Kindes zeitweise wie ihren eigenen empfinden, der dann zur Abspaltung und Projektion eigener Anteile und zum Spannungsabbau genutzt wird. Noeker ergänzt, dass die Mütter Probleme bei der Unterscheidung von Realität und Vorstellung aufweisen. Somit ist auch hier eine Ähnlichkeit zwischen der Borderline-Persönlichkeitsstörung und dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom hinsichtlich der Dissoziationen bei den Täter(inne)n zu erkennen. Wird das Missbrauchsagieren demnach als Schädigung des eigenen Körpers aufgrund von dissoziativen Symptomen verstanden, so besteht bei beiden Störungen die Neigung zu selbstverletzenden Verhaltensweisen.

            Auch die ebenfalls häufig bei den Müttern festgestellte histrionische Persönlichkeitsstörung ähnelt sich im differentialdiagnostischen Bild des Münchhausen-Stellvertretersyndroms. Gemäß den Kriterien des DSM V fühlen Personen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung sich beispielsweise unwohl, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (American Psychiatric Assosiation, 2015). Noeker sieht diesbezüglich Ähnlichkeiten bei den Müttern, die in einer egozentrischen Art und Weise ihren Fall im Stationsalltag herausheben und diesem wesentlich mehr Bedeutung zuweisen. Auch sieht er ein gesteigertes Bedürfnis nach Anerkennung im Team der Station. Darüber hinaus ist ein weiteres Kriterium der histrionischen Persönlichkeitsstörung eine Neigung zur Theatralik und Dramatisierung sowie ein übertriebener Gesichtsausdruck. Somit werden histrionische Anteile im Verhalten der Mütter deutlich, die die Symptome der Kinder dramatisch darstellen, übertreiben und somit inszenieren. Die bereits erwähnte Beziehungsgestaltung ist auch hinsichtlich histrionischer Akzentuierungen zu interpretieren, da Beziehungen enger aufgefasst werden können als sie in der Realität sind. Noeker beschreibt dies als manipulative und distanzgeminderte Verhaltensweisen, die den Ärzten und dem Stationsteam gegenüber gezeigt werden.

            Hinsichtlich differentialdiagnostischer Ähnlichkeit zur depressiven Symptomatik gibt es Ähnlichkeiten in Bezug auf Suizidalität, die bei den Müttern vermehrt festgestellt wurde (Rosenberg). Diese liegt bei einer schweren depressiven Erkrankung häufig vor (Arsenault-Lapierre, Kim & Turecki, 2004).

            Die diffentialdiagnostische Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen ist zunächst allgemein durch das Motiv der Mütter, die Krankenrolle stellvertretend einzunehmen, charakterisiert (Meadow, 1995). Dies liegt bei Störungen, die dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom ähneln, nicht vor. Da dieses Motiv laut Noeker jedoch klinisch nicht sicher zu beurteilen ist, sollten weitere Unterscheidungskriterien nicht außer Acht gelassen werden. Die Somatoforme Störung, die sich nach Bools et al. (1994) gehäuft bei den untersuchten Müttern zeigte, unterscheidet sich durch das nicht bewusste Vortäuschen oder Erzeugen von Symptomen, die bestehende kooperative Einstellung bezüglich dem Einbringen von medizinischen Vorbefunden, die Akzeptanz des Vorschlags einer Trennung vom Kind während eines Klinikaufenthaltes sowie die fehlende Besserung des gesundheitlichen Zustands des Kindes nach Trennung vom MbPs. Auch die Hypochondrie kann mit dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom verwechselt werden (Pfeiffer Schröder & Lehmkuhl, 1997). Diese zeichnet sich durch den Wunsch nach intensiver Differentialdiagnostik wegen einer authentisch befürchteten Grunderkrankung, die Hoffnung auf die Verringerung der Angst durch fachärztliche Abklärung und somit Beruhigung sowie eine nur kurzzeitige Erleichterung bei Negativbefunden aus. Im Gegensatz dazu liegt bei dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom eine lange und aufwendige Ausgestaltung der Krankenrolle durch eine Vielzahl von Untersuchungen, ein subjektiver Gewinn aus der Behandlung in der Klinik oder den medizinischen Untersuchungen sowie das weiterhin bestehende Motiv der stellvertretenden Krankenrolle, das nicht befriedigt wird, vor. Ein weiteres Störungsbild, welches zu Verwechslungen führen kann ist die dissoziative Störung (Steinhausen & Von Aster, 1999). Diese unterscheidet sich darin, dass meist keine Kompatibilität mit der neurologisch-funktionellen Anatomie vorherrscht, welche bei dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom grundsätzlich mit den Symptomen kompatibel sein kann. Bei der dissoziativen Störung wird darüber hinaus die Symptomatik unbewusst erzeugt. Auch dient die Einnahme der Krankenrolle im Gegensatz zum MbPS dem zum Teil unbewussten Vermeiden von Anforderungen sowie Überforderungen. Zuletzt ist die psychotische oder wahnhafte Störung von dem MbPS zu differenzieren, bei dem wahnhafte Symptome sowie inhaltliche oder formale Beeinträchtigungen der Bewusstseinsfunktionen nicht vorhanden sind (Noeker).