Hirnstamm

Der Hirnstamm, der Truncus cerebri, ist zwar nur so groß wie ein Daumen, doch der Vergleich mit einem Baumstamm ist durchaus treffend: Wie dieser oft unter all dem Blattwerk kaum zu sehen ist, so wird auch der Hirnstamm von Groß– und Kleinhirn teilweise verdeckt. Und wie ein Baumstamm hat auch er tragende Funktion, denn der Hirnstamm verbindet die Teile des zentralen Nervensystems: Oben schließen sich Zwischen– und Großhirn an, nach hinten das Kleinhirn.

Nach unten geht der Hirnstamm nahtlos in das Rückenmark über. Dieser unterste Bereich wird als Medulla oblongata bezeichnet, als verlängertes Rückenmark, und wie die Bezeichnung schon vermuten lässt, ist eine eindeutige Grenze schwer zu ziehen. Manche Anatomen sehen sie dort, wo der erste Rückenmarksnerv abzweigt. Andere ziehen die Grenze etwas oberhalb, an der „Pyramidenkreuzung“. Dort wechseln viele von der linken Hirnhälfte kommende Nervenbahnen nach rechts und umgekehrt.

Entwicklungsgeschichtlich ist der Hirnstamm der älteste Teil des Gehirns und so fallen die Unterschiede zwischen Mensch und Tier vergleichsweise gering aus. Seine Funktionen sind vielfältig – so unscheinbar er auch wirken mag, so zentral ist der Hirnstamm doch für das Funktionieren des Gehirns und des gesamten Organismus. Der Frankfurter Anatom Helmut Wicht bezeichnet ihn gar als „Technikzentrale“ des Gehirns.

Aufbau und Struktur

Und tatsächlich: Betrachtet man den Hirnstamm genauer, passt dieses Bild einer komplexen Technikzentrale mit ihren vielen Leitungen und Schaltschränken sehr gut. Eine Ordnung ist für den unbedarften Beobachter schwer auszumachen. Doch Anatomen unterscheiden drei große Teile: das bereits genannte verlängerte Rückenmark, das Mittelhirn (Mesencephalon) und die Brücke (Pons). Sie alle bestehen aus vielfältigen Unterstrukturen mit teils poetisch anmutenden Namen wie Olivenkern, Hirnschenkel oder Haube. Oder auch das „Bochdaleksche Blumenkörbchen“, das Gehirnwasser produziert.

Ähnliche Vielfalt herrscht auf mikroskopischer Ebene. Zahlreiche Nervenbahnen durchziehen den Hirnstamm, darunter viele Faserzüge, die sensorische Signale zum Zwischenhirn und motorische Signale vom Cortex zum Rückenmark leiten.

An anderen Stellen gibt es Ansammlungen grauer Substanz, so genannte Kerne, die aus den Zellkörpern von Neuronen bestehen. Sie wirken teils als Umschaltstationen, teils sind sie selbst für die Steuerung vieler Körperfunktionen zuständig – einschließlich der überlebensnotwendigen. Beispiele solcher Kerne wären der durch einen hohen Eisengehalt auffällig rote Kern, der Nucleus ruber, oder die vom Körper-?Farbstoff Melanin dunkel gefärbte Substantia nigra, die beide eine wichtige Rolle bei der Motorik spielen.

Aufgaben und Risiken 

Der Hirnstamm kontrolliert aber auch Blutdruck und Herzfrequenz, steuert Atmung und Schwitzen. Zudem reguliert er Wachen und Schlafen bis ins Detail, koordiniert also, wie aktiv das Gehirn gerade ist beziehungsweise in welcher Traumphase wir uns befinden. Als entscheidende Schaltzentrale erweist er sich auch bei einigen lebenswichtigen Reflexen wie Schlucken, Brechen oder Husten.

Zentraler Taktgeber dieser zahlreichen Vitalfunktionen ist die Formatio reticularis, deren netzartige Struktur sich durch den gesamten Hirnstamm zieht. Besonders prominent sind hier die Raphe-?Kerne, die im gesamten reticulären System verteilt sind, weitflächig ins Gehirn projizieren und deren Botenstoff das Serotoninist. Nicht zuletzt finden sich im Truncus cerebri die Kerne von zehn der insgesamt zwölf Gehirnnerven, die beispielsweise Geschmacks– und Höreindrücke ans Gehirn übertragen, Augen– und Gesichtsmuskulatur steuern oder das Gleichgewicht regulieren. (Siehe Detail on Demand)

Wo viele Funktionen zusammenlaufen, kann bei Ausfall großer Schaden entstehen. Begrenzte Schädigungen des Hirnstamms – etwa durch Schlaganfall oder Entzündungen – können zu Lähmung oder Empfindungsstörungen bestimmter Körperareale führen, zu Schwindel oder unkontrolliertem Zittern. Tödlich wird es, wenn eine Schwellung die Durchblutung zum Erliegen bringt, was schon nach einer Gehirnerschütterung passieren kann. Mit dem Hirnstamm versagen dann die von ihm gesteuerten lebensnotwendigen Körperfunktionen und es kann zu einem Herz– oder Atemstillstand kommen. Umgekehrt betrachtet sind es Teile des Hirnstammes, die bei Wachkomapatienten die Lebensfunktionen aufrechterhalten, während das Großhirn – und mit ihm sämtliches Bewusstsein – schwerstgeschädigt sein kann.