Traumatisierung und Bindungsstörung

In einer Vielzahl von Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Patienten, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, innerhalb ihrer Vorgeschichte gleichzeitig Traumatisierungen im Sinne körperlicher Gewalt bzw. Misshandlung (65% aller Patienten (Sack et al., 2013)), sexueller Gewalt (während der Kindheit und Jugend 48% aller Frauen, 28% aller Männer (vgl. ebd.)) oder emotionaler Gewalt bzw. Misshandlung (inklusive Vernachlässigung 96% aller Patienten (vgl. ebd.)) erfahren haben (Herman et al., 1989; Widom et al., 2009; Zanarini et al., 2002). Der Zusammenhang zwischen diesen Arten von Gewalt und der Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung steht in einer kausalen Beziehung im Sinne eines multifaktoriellen ätiologischen Modells, in welches zudem ungünstige elterliche Erziehungsstile, neurotische Störungsbilder innerhalb der Familie, strukturelle familiäre Belastungen (z. B. Trennungen) als unabhängige Faktoren einfließen (Ball & Link, 2009; Bandelow et al., 2005). Zusätzlich liegt zwischen der Borderline-Persönlichkeitsstörung und der chronischen PTBS eine hohe bis sehr hohe Komorbidität zwischen 39,2% und 79% vor (Golier et al., 2003; Grant et al., 2008; Sack et al., 2013; Irle et al., 2011; Karl et al., 2006). Es soll im Folgenden geklärt werden, welche Ursachen der Entstehung der Störung zugrunde liegen, inwiefern und auf welchen Ebenen eine Traumatisierung der Patienten vorliegt sowie eine zusammenfassende, entwicklungspsychologische Sicht der Störungsentstehung dargelegt werden.

Die ersten Ursachen für die Entstehung dieser Störung liegen oftmals schon in der Kindheit, in der bindungstraumatischer Einflüsse auf das Kind einwirken wie beispielsweise Misshandlungserfahrungen (Allen, 2009; Golier et al., 2003; Lobbestael et al., 2010), unsicher-desorganisierte Bindungsmuster entwickelt werden, mütterliche Feindseligkeit, unzureichende Väterpräsenz, allgemeiner familiärer Stress oder grenzüberschreitende familiäre Verhaltensmuster erfahren werden, (Carlson et al., 2009), denn dies schädigt die kindliche Entwicklung der Bindung und der Persönlichkeit zusätzlich zur direkten Gewalteinwirkung durch elterliche Verhaltensweisen wie Ängstigen, Bedrohen, Einsperren, Demütigen, plötzliches emotionales Fallenlassen, die im Extremfall dazu beitragen, die Persönlichkeitsreifung zu verhindern oder schwere interpersonale Abhängigkeiten auszubilden (Kalsched, 1996). Diese Verhaltensweisen sind nur schwer von den Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen (wie wiederholte Brüche von Bindungsbeziehungen, frühe Verluste von Bezugspersonen, inkonsistentes oder vernachlässigendes elterliches Verhalten, Situationen des Alleinseins, der fehlenden Geborgenheit, andauernde Entwertungen, Überforderungen) zu unterscheiden, denn die Übergänge sind zumeist fließend. Die Störung kann in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter umso weiter ausgeprägt sein, wenn das Kind zusätzlich vor dem fünften Lebensjahr von seiner Mutter getrennt wurde (Crawford et al., 2005)

Als weitere Ursache wirken traumatische Einflüsse und biologisch-genetische Faktoren wie die Präsenz eines bestimmten Haplotyps des Serotonintransporter-Gens mit kurzem Allel (Ni et al., 2006) auf unterschiedliche Weise in der Gen-Umwelt-Interaktion zusammen (Grunderson, 2009; Oldham, 2009).

Zu den weiteren Ursachen zählen ebenso neurobiologische Faktoren, die beispielsweise dann entstehen, wenn die Eltern die negativen kindlichen Affekte nicht adäquat regulieren, weil sie evtl. selber zwischen verschiedenen State-Zuständen wechseln, da sie die notwendige regulierende Atmosphäre nicht bereitstellen können, die das Kind zur neuronalen Ausreifung seiner Emotionsregulation im präfrontalen Kortex benötigt. Aus diesem Grund bewirken die über längere Zeit bestehenden, unregulierten negativen emotionalen Zustände (anhaltender Stress), dass neurotoxische Substanzen wie Cortisol oder Noradrenalin freigesetzt werden, die ihrerseits wiederum das Wachstum der Strukturen zur Emotionsregulation behindern (Schore, 2007). Durch die weiter oben bereits beschriebenen bindungstraumatischen Einflüsse entwickeln die Kinder Funktions- und Strukturdefizite, die sich auf ein gestörtes kortikolimbisches Netzwerk zurückführen lassen. Das Borderline-typische Bedrohungsgefühl beispielsweise wird näher definiert, erzeugt durch eine Volumenminderung in den für die Emotionsregulierung wichtigen Hirnstrukturendes präfrontalen Cortex (stärkere Reduzierung des Volumens des rechten ventrolateralen präfrontalen Cortex bei Patienten mit zusätzlicher Vorgeschichte von Kindesmisshandlung (Morandotti et al., 2013)), des vorderen cingulären Cortex, des Hippocampus (stärkere Volumenminderung (Weniger et al., 2009)) und der Aktivierungssteigerung der Amygdala (Driessen et al., 2000; Herpertz et al., 2001; Irle et al., 2011), welche dafür Sorge trägt, dass die Amygdala nach Beenden der Gefahrensituation weiterhin aktiviert bleibt (=verminderte präfrontale Top-down-Modulation der Amygdala (Davidson et al., 2000)).

Ferner liegt bei ihnen eine Dysfunktion bzw. Funktionsstörung des Serotoninsystems (New et al., 2008), des dopaminergen Belohnungssystems (Nemoda et al., 2010) vor. Letzteres ist ausschlaggebend für die Neigung zur sofortigen Bedürfnisbefriedigung sowie ihre Tendenz zu risikoreicher Suche nach neuen Stimuli. Weiterhin liegt in diesen Fällen eine verminderte basale Opioid-Aktivität vor (Stanley et al. 2010), welche eine mögliche Erklärung für das selbstverletzende Verhalten und weitere selbstschädigende Aktivitäten der Patienten zur eigenen Emotionsregulation darstellen könnte, womit sie ihr endogenes Opioid-System anzuregen versuchen (Bandelow et al., 2010). Bei misshandelten Kindern (Heim et al., 2009) wurde ein erniedrigter Spiegel des Bindungshormons Oxytocin, das zur Regulation des prosozialen, kooperativen Verhaltens, der Bildung von interpersonalem Vertrauen zuständig ist, gefunden.

Weiterhin stellen Umweltfaktoren wie die Qualität des mütterlichen Verhaltens während der postnatalen Periode eine Ursache dar, die wesentlich dazu beiträgt, dass das sich entwickelnde Gehirn in seinen emotionalen, kognitiven, endokrinen, Neurotransmitterfunktionen dauerhaft geprägt wird (Weaver et al., 2004), was nach Champagne (2008), Rakyan & Beck (2006), auch Beeinflussung der Genexpression genannt.

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei der Entstehung der Borderline-Erkrankung um ein multifaktorielles Modell, weshalb die Patienten zusätzlich zu den Entstehungsursachen zumeist auf den folgenden vier Ebenen traumatisiert sein können:

Erstens auf der Ebene der Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen. Hier können die Kinder durch unzureichende emotionale Verfügbarkeit der Bezugspersonen, ein unberechenbares frühkindliches Umfeld, frühe dyadische Fehlregulation, wiederholte Brüche der Bindungsbeziehungen, Erfahrungen des Alleingelassen- und Ausgeliefertseins durch plötzliche Zustandsveränderungen der Bezugspersonen geschädigt werden. Auf dieser Ebene besteht ein hohes Schädigungspotenzial, da in diesem Stadium der Beziehungsgestaltung der präverbalen Lebensphase die Ausreifung der kortikalen Strukturen noch nicht erfolgt ist (Joseph, 1992) (was weiter oben bereits beschrieben wurde). Aufgrund des geringen Alters werden die traumatischen Erfahrungen als implizite Erinnerungsspuren abgebildet, die dem bewussten Erleben nicht zugängig sind. Werden dissoziierte prozedurale Erinnerungen bzw. Abläufe ausgelöst, kann es zu einer traumatischen Re-Inszenierungen kommen (Eagle, 1984; Wöller, 2013, S. 136 ff.). Im Erwachsenenalter stellen sich diese in der Kindheit gespeicherten Abläufe des gleichzeitigen oder schnellen Wechsels des Bindungs- und Abwehrsystems als dysfunktionale Verhaltens- und Beziehungsmuster heraus.

Zweitens kann eine Traumatisierung in der verbalen Lebensperiode durch physische, sexuelle, emotionale Gewalt vorkommen, die zum größten Teil erinnert wird oder dem bewussten Erinnern durch Dissoziation entzogen sein kann, um die überlebensnotwendigen Bindungsbeziehungen nicht zu gefährden. Hierbei wird zumeist die Traumatisierung selber erinnert, die Teilaspekte derer jedoch nicht.

Drittens kann die zuvor beschriebenen Ebene der Traumatisierung auch im späteren Lebensalter bis in die jüngste Vergangenheit durch nahestehende Personen wie Lebenspartner oder durch Fremde geschehen. Sie kann gut erinnert werden und ist zudem oft ursächlich für die häufigsten Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

Viertens können Alltagsstimuli einer traumatischen Qualität als Folge einer persönlichkeitsspezifischen Vulnerabilität traumatisierend wirken, wenn sie assoziativ mit den früheren oder frühesten traumatischen Erfahrungen verknüpft sind. Der subjektiv empfundene Belastungsgrad ist durch geringfügige, traumassoziierte Anlässe dabei ähnlich hoch wie der bei dem Gedanken an die traumatischen Erfahrungen selbst.

Generell lässt sich deshalb festhalten, dass nicht verarbeitete, traumatische Erinnerungen für die emotionale Dysregulation verantwortlich sind (Minzenberg et al., 2008). Dieser Befund wird durch die Ergebnisse von Beblo et al. (2006) gestützt, der eine gesteigerte Amygdala-Aktivität sowie des vorderen cingulären Cortex bei Probanden mit unverarbeiteten Traumata vorfand. Weiterhin ist festzuhalten, dass Menschen, die bereits in ihrer Kindheit traumatisiert wurden und ihnen angemessene Reaktionen wie Kampf, Flucht, Einfrieren (Freezing) (unaufgelöste Kampf-Flucht-Freeze-Reaktionsmuster) nicht möglich waren, ohne ihre hergestellte Bindung zu gefährden über Prozesse der Sensibilisierung, Kindling (sich steigernde, später deutlich erhöhte Reagibilität auf eher schwache Stimuli) eine erhöhte psychophysische Reagibilität auf Alltagsstressoren (Scaer, 2001) entwickeln (= stress-induzierte neuroplastische Veränderungen). Dies hat zur Folge, dass ursprünglich nicht bedrohliche Stimuli pathologische Angstreaktionen hervorrufen und die Stressphysiologie aktivieren (McEwen, 2003), welche sich in einer verstärkten Empfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen, einer erhöhten Schreckhaftigkeit (Startle-Reaktionen), stärkeren emotionalen Reaktionen ausdrückt.

Neuere Forschungen zur Entwicklungspsychologie kategorisieren die Borderline-Persönlichkeitsstörung als eine Bindungsstörung (Buchheim et al., 2008; Schore, 2005; Scott et al., 2013). Diese kann psychopathologisch in das unsicher-ambivalente Bindungsmuster und das unsicher-desorganisierte Bindungsmuster zergliedert werden (Agrawal et al., 2004; Choi-Kain et al., 2009; Fossati, 2012; Levy et al., 2011; Scott et al., 2013). Letzterem kommt bei der Entstehung die größte Bedeutung zu (Gunderson & Lyons-Ruht, 2008). ES entsteht, wenn die Bindungsperson gleichzeitig Angst und Bedrohung auslöst (Main & Hesse, 1990), also gleichzeitig das Bindungs- und das Bedrohungssystem aktiviert wird. Litten die Eltern selbst unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, mussten die Kinder jederzeit mit einem Wechsel in den anderen Ich-Zustand (State-Wechsel) (z. B. von einem zärtlichen Gefühlszustand in einen der rasenden Wut und Destruktivität) ihrer Eltern rechnen, was es zusätzlich als bedrohlich empfindet (Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008), da die Auslöser für das Kind unvorhersehbar sind. Genauso bedrohlich ist das Fehlen jedweder Reaktion (Non-Responsivität) der beispielsweise depressiven oder dissoziative Mutter, da die verspätet einsetzende Reaktion der Mutter nicht dazu führt, dass das Kind sich sicher fühlt. Es empfindet sich als unbeachtet, nicht gemeint, woraufhin es sich verlassen fühlt oder ein Gefühl entwickelt, nichts bewirken zu können (Stern, 1992).

Zusammengefasst lautet das entwicklungspsychologische Fazit, dass durch die bindungstraumatischen Umstände eine anhaltende Gefahrensituation entsteht, die das Bindungssystem aktiviert und weshalb sich das Kind an die Bindungsperson wendet, die gleichzeitig die schädigende Person ist. Aus diesem Grund muss es gleichzeitig Schutzimpulse aktivieren, die sich ebenfalls gegen die Bindungsperson richten. Da Bindungsbedürfnisse und Schutzimpulse gegenüber der gleichen Person nicht kompatibel sind, müssen sie im Erleben getrennt werden. Hierdurch lassen sich wiederum viele Phänomene der Borderline-Pathologie erklären:

Die Instabilität der zwischenmenschlichen Beziehungen und das rasche Eingehen intimer Beziehungen sind eine Folge der Aktivierung des Bindungssystems, um das Erleben des Verlassen-Werdens zu verhindern, weswegen die Vertrauenswürdigkeit der schnell geschlossenen Bekanntschaft nicht beurteilt werden kann (Fonagy & Bateman, 2006, 2008).

Die gestörte Mentalisierungsfähigkeit kann dadurch entstehen, dass anhaltende emotionale Not kompensiert werden muss. Der chronische Annäherungs-Vermeidungskonflikt hemmt eine effektive Informationsverarbeitung, macht die Entwicklung eines kohärenten Bildes des Gegenübers unmöglich.

Die fehlende Ich-Integration und Identitätsprobleme wird bzw. werden dadurch verursacht wird, dass das Kind unterschiedliche Arbeitsmodelle von Bindung in kurzer zeitlicher Abfolge gegenüber derselben Person aktivieren muss, damit es das benötigte Maß an Bindungsbeziehung erhält, weshalb es die mit den entsprechenden Arbeitsmodellen verbundenen Selbstzustände durch Verleugnung oder Dissoziation voneinander trennen muss.

Das desorganisierte Bindungsmuster wird in Bezug auf den Kontakt zu ihnen nahestehenden, wichtigen Personen aktiviert. Sie werden als Retter und Schädiger gleichen Teils angesehen, das Fight-Flight-Bindungssystem und das Rettungsbindungssystem werden gleichzeitig aktiviert. Hierin besteht die Ursache für gleichzeitig gezeigte kindlich-vertrauensvolle sowie schroff zurückweisende Verhaltensweisen (wechselnde Selbst-Systeme).

Je jünger die Person und je desorganisierter der Bindungsstil bei Erfahren ihres Traumas war, desto mehr dissoziative Symptome bzw. Züge werden entwickelt und gezeigt, da das Bedrohungsgefühl umso weniger kompensiert werden kann (Liotti, 1999, 2004). Dementsprechend schlechter können die Bindungsstrategien organisiert werden und kohärente Bindungsstile (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) ausgebildet werden.

Zudem kann das bindungstheoretische Modell auch zur Erklärung der Entwicklung maladaptiver Verhaltensweisen beitragen. Es geht darum, ein Gefühl der Sicherheit (Bindungssicherheit) herzustellen, indem das Bindungssystem gehemmt und ein anderes basales emotionales System (Panksepp, 1998) aktiviert wird, nämlich das aggressive oder sexuelle System. Wird das aggressiv getönten Kontrollsystems aktiviert, zeigen Kinder mit desorganisiertem Bindungsmuster kontrollierende Verhaltensweisen (Lyons-Ruth & Melnick, 2004) oder Menschen üben im sozialen Rangordnungssystem Mach aus, weil Untergeordnete Signale der Unterwerfung aussenden (Keltner et al., 2003; Scott, 1990). Wird das sexuelle System aktiviert (in Emotionalität und Verhaltensmustern ähnlich dem Bindungssystem), dient es als Ersatz für Bindung, wodurch der Wunsch nach Nähe befriedigt wird, die damit verbundenen Ängste jedoch weniger hervorgerufen werden. Deshalb ist sexuell verführerisches Verhalten der einzige Weg, Bindungswünsche ansatzweise gefahrlos zu leben. Dadurch entstehen jedoch Kommunikationsprobleme, deren Ursache die unklare Bedeutung des Körperkontakts ist sowie oft schwer steuerbare sexuelle Beziehungen.