Fachgutachten

SG Düsseldorf · Urteil vom 3. Mai 2012 · Az. S 9 (34) KR 83/08


Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 31.5.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.2.2008 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die im Oktober 2007 durchgeführte bariatische Operation den Betrag in Höhe von 7600 Euro nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu erstatten. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Kosten zu erstatten, die ihm für die im Oktober 2007 durchgeführte bariatische Operation entstanden sind.

Am 27.2.2007 stellte der 1962 geborene Kläger den Antrag auf Bewilligung einer bariatischen Operation durch die Beklagte.

Er wies in seinem Antrag auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (B 1 KR 2/02 R vom 19.12.2003) hin und teilte mit, dass er bei einem Gewicht von 146 kg und einer Körpergröße von 1,79 m einen Body Maß Index (BMI) von 45,57 kg/m2 habe. Er leide zudem an Bluthochdruck, Skoliose, Schlafapnoe und es liege möglicherweise eine Erkrankung vor, (z.B. Schilddrüsenunterfunktion, Nebennierenrindenüberfunktion), die die Ursache des Óbergewichts darstelle. An einer psychischen Erkrankung leide er nicht.

Unzählige Diätversuche seien langfristig ohne Ergebnis geblieben. Er nehme regelmäßig an Selbsthilfegruppen teil. Er erfülle daher alle vom Bundessozialgericht geforderten Voraussetzungen. Der Kläger verweist hinsichtlich seiner Abnehmversuche auf eine von ihm erstellte Tabelle. Ausweislich dieser Tabelle wird deutlich, dass der Kläger seine Gewichtsprobleme seit 1976 hat er zuletzt in der Zeit vom 28.1.2004 bis zum 31.3.2004 und sodann vom 6.5.2004 bis zum 15.7.2004 zwei Kurse belegt hat, die sich Ernährungsberatung – Abnehmen mit Verstand nennen. In dieser Zeit hat der Kläger insgesamt 17, 1 kg abgenommen. Ab Januar 2005 hat der Kläger bis zur Antragsstellung im Februar 2007 wieder 33 kg zugenommen.

Durch die Vorlage ärztlicher Berichte von X1 vom 7.1.2004 und N-T1 vom 10.12.2003 wird deutlich, dass bei dem Kläger seit der Kindheit eine Lendenwirbelsäulenskoliose besteht, die dem Kläger zusätzlich erhebliche Schwierigkeiten macht und die ein Abnehmen dringend erfordert. Im Januar 2004 kurz vor den Kursen Abnehmen mit Verstand bestand für die LWS Skoliose eine Operationsindikation, die jedoch voraussetzte, dass der Kläger 32 kg abnehmen würde (er dürfe unter der Operation nur ca 100 kg wiegen).

Nach dem Eingang des Antrags fragte die Beklagte nach einem Ernährungsprotokoll und holte ein MDK Gutachten von M ein. M teilte im MDK Gutachten vom 4.5.2007 mit, dass bei dem Kläger eine Adipositas mit Krankheitswert bestehe. Es sei jedoch auch deutlich, dass der Kläger mit konservativen Maßnahmen in der Lage sei, sein Gewicht erheblich zu reduzieren, so habe er 1993 43 kg abgenommen. Die Unterlagen belegten zwar, dass der Kläger auch nachhaltig an Ernährungsberatungen teilgenommen habe, aber er setze die dort gegebenen Ratschläge nicht konsequent genug um wie die Gewichtszunahme in den letzten Jahren zeige. Eine Bewegungstherapie werde verneint. Die Nutzung eines Heimtrainers und regelmäßiges Schwimmen würden jedoch bejaht.

Vor diesem Hintergrund kommt M zu dem Ergebnis, dass die vor einem operativen Eingriff geforderten konservativen Behandlungsmaßnahmen, die von der Deutschen Adipositasgesellschaft gefordert werden würden, nicht ausgeschöpft seien, so dass gegenwärtig die Voraussetzungen für die Bewilligung einer bariatischen Operation noch nicht vorliegen würden.

Mit Bescheid vom 31.5.2007 lehnte die Beklagte die Bewilligung einer bariatischen Operation ab und verwies darauf, dass auch nach einer Operation eine dauerhafte Ernährungsumstellung dringend erforderlich sei. Unter Bezugnahme auf das Gutachten von der M vom MDK könnte die Operation nicht bewilligt werden.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein.

Der Kläger legte sodann ein umfassendes Gutachten des T2.G Hospitals vom 17.8.2007 vor, indem die bariatische Operation als ultima ratio beschrieben wird. In Betracht komme sowohl eine laparoskopische Magenbypass-Operation, als auch eine Magenschlauchoperation oder ein laparoskopisches Magen-Banding.

Der Kläger begründete seinen Widerspruch zudem sehr ausführlich und teilte unter Bezugnahme auf die bereits vorgelegten Unterlagen, dass er die Ansicht von M nicht nachvollziehen könne. Er habe in jeder Hinsicht alle konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft. Die bei ihm bestehende Schlafapnoe und der Antrag auf das CPAP Gerät zeigten zudem, dass weitere Erkrankungen bestünden und daher dringender Handlungsbedarf bestehe, um der Adipositas wirksam zu begegnen.

X2 bestätigt im August 2007, dass ein schwergradiges obstruktives Schlafapnoe Syndrom bestehe.

Die Beklagte legt diese Widerspruchsbegründung erneut dem MDK vor, wobei diesmal die beratende Ärztin Frau C im Gutachten ausführt, dass die geklagten Beschwerden nicht bezweifelt würden, aber dem Kläger die Durchführung des Adipositas Programms zumutbar sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.2.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage und teilt ergänzend mit, dass ihm seit Oktober 2008 ein Grad der Behinderung von 60 % zuerkannt worden sei.

Ferner teilte der Kläger mit, dass er die bariatische Operation im Oktober 2007 habe durchführen lassen und ihm hierfür Kosten in Höhe von 7600,-Euro entstanden seien.

Im Bericht des T2. G Hospitals vom 20.11.2008 wird ausgeführt, dass es dem Kläger nach der Operation sehr gut gehe. Die hypertensive und cholesterinsenkende Medikation habe ganz eingestellt werden können. Bezüglich der Skolioseproblematik befinde sich der Kläger in alternativmedizinischer Behandlung und sei weitgehend beschwerdefrei. Ob eine orthopädische Stabilisierungsoperation noch durchzuführen sei, stehe noch nicht fest.

Nach Kenntnisnahme dieser Unterlagen blieb die Beklagte bei ihrer Stellungnahme und teilte mit, dass wenn es dem Kläger jetzt gelänge, kleinere Portionen zu essen und weniger fette Nahrung zu sich zu nehmen, so hätte dies auch ohne Operaiton möglich sein können, wenn der Kläger ein Programm nach den Leitlinien der Deutschen Adipositas Gesellschaft durchgeführt hätte.

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 31.5.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.2.2008 aufzuheben und ihm die Kosten, für die im Oktober 2007 durchgeführte bariatische Operation in Höhe von 7600,- Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, ihre im Verwaltungsverfahren mitgeteilte Auffassung sei rechtmäßig.

Das Gericht holte im laufenden Gerichtsverfahren ein Gutachten von Amts wegen von L ein.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte vollinhaltlich Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gewesen sind.
Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Kläger ist durch den Bescheid vom 31.5.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.2.2008 in seinen Rechten im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert.

Gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 Fünftes Buch des Sozialgesetzbuch (SGB V) gilt: "Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sich dadurch dem Versicherten Kosten entstanden, sind diese in der entstandenen Höhe zu erstatten.

Vorliegend hat die Beklagte, die im Februar 2007 beantragte bariatische Operation mit Bescheid vom 31.5.2007 zu Unrecht abgelehnt, so dass der Kläger sich diese im Oktober 2007 unter Einhaltung des Beschaffungsweges verschaffen konnte und nunmehr von der Beklagten Erstattung der Kosten in Höhe von 7600,- Euro beanspruchen kann.

Denn grundsätzlich kann der Kläger gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V die Krankenhausbehandlung von der Beklagten verlangen, soweit diese gemäß § 2 Abs. 1, § 12 Abs. 1, § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V wirtschaftlich und medizinisch notwendig und erforderlich ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Anspruch auf Kostenerstattung geht nicht weiter als der Sachleistungsanspruch.

Wird durch eine Operation in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert, wie dies bei einer bariatischen Operation geschieht, bedarf diese mittelbare Behandlung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie die Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind (BSG vom 19.2.2003 Az.: B 1 KR 1/02 R mwN).

In Anwendung dieser Grundsätze ist zunächst festzustellen, dass der Kläger unter krankhaftem Óbergewicht litt. Die Voraussetzungen einer bariatischen Operation liegen vor, wenn ein BMI von 40 oder 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen, Erschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten, tolerables Operationsrisiko, ausreichende Motivation, keine manifeste psychiatrische Erkrankung sowie Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung vorliegt (vgl. hierzu BSG vom 10.9.2009 Az.: B 1 KR 2/08 R).

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien kommen die Beteiligten zu einem unterschiedlichen Ergebnis, ob der der Kläger alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat oder nicht. Die Óbrigen Voraussetzungen liegen vor.

Der Kläger hatte Anspruch auf die bariatische Operation. Die Beklagte konnte den Kläger nicht mehr zu Recht auf andere konservative Maßnahmen verweisen. Die Durchführung der bariatischen Operation im Oktober 2007 war medizinisch notwendig und erforderlich.

Dies ergibt sich zur Óberzeugung der Kammer aus dem Gutachten von L. Der Sachverständige ist der Kammer bekannt und das Gutachten ist in sich schlüssig und nachvollziehbar begründet.

L hat dargelegt, dass die vom Kläger absolvierten Diäten gezeigt haben, dass eine Gewichtsreduktion seit 1976 nicht von Dauer war. Insbesondere der Kurs Ernährungsberatung Abnehmen mit Verstand in der Zeit vom 28.1.2004 bis zum 31.3.2004 und vom 6.5.2004 bis zum 15.7.2004, währenddessen der Kläger 17,1 kg abgenommen hat, ist eine Maßnahme, die dem Programm der Adipositas Leitlinien entspricht. Dies hat der Sachverständige L in seinem Gutachten bestätigt und nachvollziehbar begründet. Die Kammer macht sich die Ausführungen des Sachverständigen zu eigen und gründet ihre Entscheidung auf diese Ausführungen.

Zur Óberzeugung der Kammer konnte der Kläger unter Berücksichtigung des bei ihm im Zeitpunkt der Antragsstellung vorliegenden BMI von 45 und der zusätzlich diagnostizierten Erkrankungen (Wirbelsäulenskoliose, Schlafapnoe) sich nur eingeschränkt bewegen. Das in 2004 selbständig durchgeführte Konzept entspricht dem der Adipositas Leitlinien. Hierdurch hat der Kläger versucht, nachhaltig abzunehmen. Scheitert dieser Versuch – wie vorliegend – ist als ultima ration eine bariatische Operation zu bewilligen. Diese Voraussetzungen lagen im Mai 2007 vor, so dass die Beklagte den Antrag des Klägers zu Unrecht durch Bescheid vom 13.5.2007 abgelehnt hat. Der Sachverständige L führt in seinem Gutachten auch aus, dass der Kläger neben regelmäßigem Schwimmen auch Fußmärsche durchgeführt habe, sowie ein Trimmrad genutzt habe. Den Bewegungsmöglichkeiten des Klägers seien jedoch wegen der "schicksalhaft" eingetretenen Skoliose und Degenerationen der Wirbelsäule, die nicht im Zusammenhang mit der Adipositas permagna stehen, Grenzen gesetzt. Der Kläger habe daher im Rahmen der multimordalen Therapie das getan, was möglich war.

Auch der Aspekt der psychologischen Betreuung sei durch die Teilnahme des Klägers an Selbsthilfegruppen erfüllt worden. Die Kammer folgt daher dem Sachverständigen, wenn dieser am Ende seines Gutachtens unter Würdigung der Gesamtumstände zu dem Ergebnis kommt, dass bei dem Kläger im Zeitpunkt der Operation eine Adipositas Grad III mit einem dauerhaften BMI über 40 und entsprechenden adipositasassoziierten Begleiterkrankungen vorlag. Die notwendigen Therapiemaßnahmen waren erfolglos zur Durchführung gekommen, so dass hier eindeutig die Voraussetzungen für eine bariatische Operation gegeben waren.

Etwas anderes ergibt sich zur Óberzeugung der Kammer auch nicht aus dem Gutachten des MDK von Frau C vom 17.2.2012, indem darauf hingewiesen wird, dass eine bariatische Operation nur als ultima ratio durchgeführt werden dürfe. Zur Óberzeugung der Kammer verkennt das Gutachten des MDK, dass konkret geprüft werden muss, ob die vom Kläger durchgeführten Diäten dem 6-12 monatigen konservativen modalen Therapie vergleichbar sind. Auch berücksichtigt das Gutachten des MDK nicht, dass bei dem Kläger eine Adipositas Grad III und schwere Nebenerkrankungen vorlagen, die sich auch auf die Bewegungsfähigkeit des Klägers auswirken. Es ist daher richtig, dass der Kläger das 6-12 monatige Programm der Adipositas Leitlinien konkret nicht durchgeführt hat (vgl. zu dieser Problematik auch Bay LSG vom 27.4.2012 Az.: L 5 KR 374/11, juris). Aber die Anstrengungen, die der Kläger unternommen hat, sind mit diesen Anforderungen vergleichbar. Mit dieser Frage setzt sich die Gutachterin des MDK nicht ausreichend auseinander, so dass die Kammer unter Berücksichtigung des Gutachtens des MDK vom 17.2.2012 nicht zu einem anderen Ergebnis als der Sachverständige L kommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).